Für den Einzelhandel ist 2020 das Jahr, in dem viele Zukunftstrends eine Entwicklung von mehreren Jahren übersprangen. Welche Folgen hat dieses bedeutsame Jahr für die Zukunft des Onlinehandels? Wird er seinen kometenhaften Aufstieg fortsetzen? Oder wird es eine Gegenbewegung geben, wenn sich mit den Impfungen das Leben nach und nach wieder normalisiert?
Einige Anhaltspunkte lassen sich aus der SARS-Epidemie, die 2003 in China grassierte, und ihren Folgen gewinnen. Auch wenn die Einzelhandelslandschaft damals ganz anders aussah und die SARS-Epidemie viel begrenzter in ihren Auswirkungen auf den Handel blieb als die COVID-19-Pandemie, waren die Konsequenzen doch interessant. Aus den Nachwehen der SARS-Lockdowns ging ein neuer Einzelhandel hervor – auch wenn der Wandel mehr Zeit benötigte als erwartet.
Wie die SARS-Epidemie von 2003 Einzelhandelsmodelle beeinflusste
Zwei Einzelhändler stehen sinnbildlich für die neue Handelsrealität, die sich in China nach SARS abzuzeichnen begann: Alibaba und JD. Der Start von Alibabas C2C-Onlinemarktplatz Taobao hat es zu einiger Berühmtheit gebracht. Taobao wäre jedoch auch ohne SARS auf den Markt gekommen: eBay war ein Jahr zuvor in den chinesischen Markt eingetreten und bei Alibaba hatte man bereits begonnen, den Launch von Taobao vorzubereiten.
Die Geschichte hinter JD bietet relevantere Erkenntnisse für Einzelhändler und die COVID-19-Krise von heute. Dem Buch „The JD.com Story“ von Li Zhigang lässt sich entnehmen, wie stationäre Händler ihre Filialen schließen mussten, als Chinas Städte in den Lockdown gingen. Darunter waren auch die 12 Filialen von JD Multimedia. Kurz nach dem Lockdown startete das Unternehmen seine eigene Onlineplattform, um direkt an Verbraucher zu verkaufen. Noch im selben Jahr begann JD-Gründer Richard Liu mit dem Gedanken zu spielen, nur noch online zu verkaufen und die stationären Filialen aufzugeben. Ursprünglich hatte das Unternehmen ehrgeizige Wachstumspläne verfolgt und plante, sein Filialnetz von zwölf auf 500 Märkte auszuweiten. Lius Entscheidung, sich ganz auf das Onlinegeschäft zu verlagern, war riskant, da zwei riesige und renommierte Elektrohändler der Region, Suning und Gome, schnell expandierten und neue Filialen eröffneten.
Mehrere Jahre vergingen und das in JD.com umbenannte Unternehmen blieb ein Nischen-Player im chinesischen Elektroeinzelhandel. 2008, fünf Jahre nach der SARS-Epidemie, machte der Onlinehandel laut Statistics China nur etwa ein Prozent des gesamten Einzelhandels in China aus. Es schien, als hätte Richard Liu die falsche Entscheidung getroffen.
Unter der Oberfläche sah es jedoch ganz anders aus. Nach SARS wuchs der Onlinehandel schnell und anhaltend: von 2003 bis 2010 um mehr als 100 Prozent jährlich. 2019 entfielen in China 20,7 Prozent des Einzelhandels auf E-Commerce. Dadurch entstand ein komplett neues Einzelhandelsökosystem in der Volksrepublik.
In der Folge wurde JD.com im Laufe der Jahre ein immer ernstzunehmenderer Konkurrent für die großen Akteure – insbesondere für Marktführer Suning – und verbreiterte sein Sortiment von Elektronik auf alle möglichen Kategorien. 2014, eine Dekade nach der großen Entscheidung, ein reiner Onlinehändler zu werden, überholte JD.com Sunings Umsatz. Seitdem wurde dieser Vorsprung ausgebaut: 2019 war JD.coms Umsatz mehr als doppelt so hoch wie Sunings.
Lehren für Einzelhändler im Jahr 2021 und darüber hinaus
Wie es bei großen Veränderungen häufig der Fall ist, beginnen sie schleichend und am Rande des etablierten Wirtschaftsumfeldes. Obwohl die Nutzung von Onlinekanälen während des SARS-Lockdowns in China sprunghaft anstieg, schien sich das Leben nach der Epidemie wieder zu normalisieren und die stationären Filialen wurden erneut zur tragenden Säule des Einzelhandels. Der große Umsturz durch den Onlinehandel geschah nicht von einem Tag auf den anderen: Es dauerte mehr als zehn Jahre, bis der E-Commerce die Marke von 10 Prozent Marktanteil an Chinas gesamtem Einzelhandel knackte.
Wenn die internationalen Märkte langsam beginnen, sich von der aktuellen Coronapandemie zu erholen und sich wieder zu öffnen, wird das Leben sich einigermaßen „normalisieren“. Doch es wäre ein Trugschluss, davon auszugehen, dass die Handelsbranche einfach wieder zu alten Modellen zurückkehren wird. Es wurde bereits eine Entwicklung in Gang gesetzt, die sich erst mit der Zeit bemerkbar machen dürfte. Der E-Commerce wird weiterwachsen und Unternehmen müssen sich Gedanken machen, wie sie online nachhaltige Geschäftsmodelle aufbauen.
Unternehmen haben viel aus den Experimenten gelernt, zu denen die Lockdowns 2020 und 2021 sie gezwungen haben. Restaurants versuchten sich darin, neben fertigen Speisen auch Lebensmittel zu verkaufen. Lebensmittelhändler griffen auf Filialen und Dark Stores zurück, um ihr Onlinegeschäft schnell zu vergrößern. Anbieter von Kochboxen erlebten ein neu angefachtes Interesse. Manche Marken machten sehr gute Erfahrungen mit dem Direktvertrieb an Verbraucher. Amazon florierte und Shopify, eine Plattform, die Händlern die Einrichtung eines Onlineshops ermöglicht, war ebenfalls stark nachgefragt.
Einige Unternehmen werden ihre Erfahrungen aus dem Jahr 2020 nutzen, um neue Wege der Kundenansprache zu finden. Auf den ersten Blick werden diese Angebote vielleicht ineffizient und unternehmerisch unklug erscheinen – so wie JD.coms frühe Onlineanfänge. Doch einige dieser neuen Geschäftsmodelle werden mit der Zeit an Bedeutung und Ausmaß gewinnen. Für die Öffentlichkeit (und viele etablierte Wettbewerber) werden die neuen Optionen überraschend in Erscheinung treten, obwohl sie bereits seit geraumer Zeit langsam im Verborgenen herangewachsen sind.
Großen, etablierten Unternehmen mögen ineffiziente und ungewöhnliche Absatzwege zunächst unattraktiv erscheinen, doch wer auch in Zukunft erfolgreich sein möchte, wird, um Kunden zu erreichen, neue Wege gehen. Selbst wenn diese erst einmal verrückt erscheinen, ist es wert, sie weiterzuverfolgen, wenn Kunden darauf anspringen. Im Handel ging es schließlich schon immer darum, Neues auszuprobieren, zu lernen und sich anzupassen.